Das Ausplätschern der Geborgenheit© – Teil Vier

Das Vermissen der nahestehenden Menschenverwandtschaft oder
Aus den Augen aus dem Sinn

Ein Vermissen der nahestehenden Menschenverwandtschaft in unserem Alltag, findet scheinbar nicht statt und wird es dennoch gefühlt, muss es geleugnet werden. Das in unserer Gesellschaft für alle und jeden angewandte übliche Distanz- bzw. Verlusttraining, setzt früh ein. Das junge Menschenkind wird im patriarchösen Alltag regelrecht dressiert, damit es sich den Lebensentwürfe der Erwachsenen anpasst. Noch vor kurzem war es so, dass man Heimweh, Sehnsucht nach zu Hause, Mutter und Vater, Geschwistern oder der Großmutter, als eher unangemessen darstellte oder, selbst bei relativ kleinen Kindern, gar verspottet. Ein „großes“ Kind hatte sich nicht so anzustellen. Auch der Erwachsene hat darüber erhaben zu sein. Hier hat schon ein empathische Verbesserung eingesetzt, doch noch werden unsere Kinder auf die Akzeptanz von Verlust trainiert bzw. genauer, auf die Interessen Anderer. Und das bereits zu einem Zeitpunkt, da eine Trennung von Bindungs- sowie den beschützenden Bezugspersonen auch über wenige Stunden, einen enormen Stress und Schmerz für das junge Kind bedeutet.
Der für ein Kind jederzeit spürbare Mangel an Geborgenheit führt zu nachteiligen Entwicklungsstörungen, die sich in der Regel erst später bemerkbar machen. Das Schlimme dabei ist, dass niemand sagen kann wie sich ein Kind anders (bzw. zum besseren für es selbst) entwickelt hätte, ohne all die nachhaltigen Eingriffe in seine Kinderwelt. Was geschehen ist ist geschehen. Wir können nur vermuten, dass so manches Problem, das später zu Therapie oder verschiedenen Krankheitsbildern führt, sich gar nicht erst eingestellt hätte.
In natürlichen Zusammenhängen wird der Radius des heranwachsenden Menschleins mit dem es sich als Kind aus der unmittelbaren Einflussnahme der Erwachsenen entfernt, allmählich größer und größer und eines Tages hat der junge Mensch kein Problem mehr damit einen, seinen Bedürfnissen angepassten Abstand einzunehmen. Von Natur aus, führt uns dieses Verhalten jedoch nicht völlig aus der Nähe-Gruppe heraus, denn eine unserer angelegten Überlebensstrategien besteht darin, dass auch ein Erwachsener ein Leben lang in der Geborgenheit seiner Angehörigengruppe verbleibt. Heute wird das als unangemessene Abhängigkeit gedeutet. Die einstige Angehörigen-Ingroup spielt in unserer derzeitigen Gesellschaftsformation fast gar keine Rolle mehr. Das Individuum wird relativ früh, an unsere, aus ungezählten Outgroups bestehende, patriarchöse, anonyme Großgesellschaft angepasst.
Bis vor kurzem gab es kaum ein Bewusstsein dafür, dass ein Kind so einer unfassbaren Bindungslosigkeit und Beliebigkeit preisgegeben wird. Der westliche kulturelle Mainstream steht wie eine Wand gegen die naturgemäße Matrifokalität sowie die vernünftige Saturation an mütterlicher/angehöriger Zuwendung. Wir sollten nicht vergessen, dass von Geburt an ein Minimum an Geborgenheit für jedes Kind stattfinden sollte, bevor der absichtlich performte, systemkonforme Mangel der persönlicher Zuwendung, die typische Bindungslosigkeit provoziert. Diese von mir genannte Bindungslosigkeit, die so vielen Menschen bis zum Ende ihrer Tage zu schaffen macht, ist der Verlust der Mutter bzw. des weiblich-mütterlichen im Erfahrungsfeld eines Menschenkindes.
Auch die extreme Kindesvernachlässigung der letzten Jahrhunderte haben wahrscheinlich in fast jedem Nachkommen tiefe Spuren in der epigenetischen Vererbung hinterlassen – die Verbundenheit zu seinen konsangiun angehörigen Mitmenschen ist systematisch gestört. Wir finden diese Spurrillen der Traumatisierung in allen Hochzeiten der patriarchalen Alt- und Neuzeit: als jedes Kind von Sklaverei bedroht war, in den Jahrhunderten des mitteleuropäischen Elends mit Seuchen, Kriegen, Hexen- sowie Ketzerverfolgung und Kreuzzügen oder in der rigiden bis sadistischen Erziehung der letzten zwei-, dreihundert Jahre, welche u.a. auf christlich motivierte Glaubenssätze fußte sowie in deren Ausläufern der Schwarze Pädagogik der letzten Jahrzehnten. Die gesamte Aufzucht des Nachwuchses ist im kulturell-sozialen Zusammenspiel seit Jahrhunderten durch Empathielosigkeit bis hin zur Brutalität flankiert und dem jeweiligen religiös-politischen Herrschaftskonzept unterworfen. Und zwar in dem jeweiligen persönlichen Bereich so wie auf kollektiver bzw. gesellschaftlicher Ebene. Dem Kind und somit allen Menschen, stand und steht seit der (gewaltsamen bis schleichenden) Patriarchalisierung der Menschengemeinschaften, keine wirkliche stützende und schützende Geborgenheit mehr zur Verfügung. Wir haben uns als Individuum und als Kollektivmitglied an die Tatsache gewöhnt, dass wir in Regel einen Zustand akzeptieren müssen, den wir umgangssprachlich als ‚mutterseelenallein‘ bezeichnen.
Das patriarchatsimmante Angebot ‚einen Vaters für ein jedes Kind‘ stellt einen spärlichen und nur für wenige den nötigen Ausgleich bereit. Ein Vater, ob sozial engagiert bzw. anwesend oder nicht, ist ein aufgepfropftes Ideal und ersetzt weder eine Muttersippe, noch bringt es genügend Schutz und Geborgenheit in das Leben eines (Klein)Kindes. Und das ist das fatale an unser aller Situation, man/das Kind vermisst nicht, was es nie kennen gelernt hat.
Oder doch? Liegt nicht der Drang nach einem uns angehörigen und zugewandten Kreis an wohlmeinenden Mitmenschen nicht in unseren Zellen? Das Individuum wird sich um zu überleben immer mit den vorgefundenen Bedingungen arrangieren, was bleibt ihm übrig. Aber irgendwie fühlt es den Mangel und ist auf der Suche dem vermissten Dasein in Geborgenheit, das die meisten diffus begleitet.
Der im Arbeitsleben stehende erwachsene Mensch vermisst bei Veränderungen in seinem berufsmäßigen täglichen Umfeld ebenfalls die zugehörigen, unmittelbar wohlwollenden menschlichen Kontakte, die sein Leben bereichern sollten. Jedoch „weiß“ er es in der Regel nicht. Ein durchschnittliches Privatleben besteht aus einer erwachsenen Person und einem (sogenannten) Partner sowie den eigenen oder patchworkmäßig anderweitigen Kindern, die mit im gemeinsamen Haushalt leben. Darüber hinaus existiert ein mehr oder weniger regelmäßiger Kontakt zu den Angehörigen der Herkunftsfamilien. Es gibt einen Freundeskreis und Arbeitskollegen, welche den alltäglichen Kontakt- und Kommunikationskreis vervollständigen. Wir sind mit reichlich Personen umgeben, so dass kaum jemand auf die Idee kommt den Verlust an menschlicher Nähe zu beklagen. Allerdings haben wir hier im Allgemeinen reichlich Quantität und die ist so kompakt, dass wir den Mangel an Qualität kaum bemerken.
Dennoch wird dieser latent wahrgenommen, wenn nicht sogar erlitten. Wir sind eine Spezies die sehr wohl dauerhaft Nähe und konsanguine Bindungen benötigt (konsanguin: verwandt in mütterlicher Linie). Zwar stehen wir in unserem Alltag oft zu unglaublich vielen Menschen in Beziehung, die meisten davon sind jedoch flüchtiger bzw. oberflächlicher Natur, welche uns selbst bei näherem Hinschauen mehr Energie kostest, als sie uns einbringt. Im allgemeinen erschöpfen uns unsere Arbeitsverhältnisse bzw. die Umstände unter denen wir sie stemmen müssen. Sie stressen uns, genau wie die dafür erforderliche Mobilität. Zudem verbraucht die permanente Beziehungsarbeit in all den anonymen Sozial-Verhältnissen unsere Kraft. Und so bleibt für unsere eigentliche Kraft- und Energiequelle – für unsere Bindungsangehörigen, den unmittelbaren, sanguin basierten Nähekreis, oft zu wenig übrig.
Auf Grund des konditionierten kollektiven Ideals „Erwachsensein gleich Autonomie“ sowie dem zweiten Grundsatz: „möglichst keine emotionale Abhängigkeit von Angehörigen außer dem amtierenden Partner“, erleben wir bestimmte Phasen unseres Berufsleben und ebenso den privaten Alltag von Anfang in dem Bewusstsein einer vergänglichen Dauer. Jede Beziehung gibt es nur auf Zeit – unter diesem Aspekt erlernen wir derzeit den Umgang mit unseren Mitmenschen. Nichts ist von Dauer, das Leben ist kein Ponyhof und gekrönt wird sie von der allerseits immer noch verinnerlichten Haltung eines bürgerlichen Ideals: „Der Mann muss hinaus ins feindliche Leben…“ – allerdings gilt das heute ebenso für Weib und Kind.
Der berufliche Kommerzpraxis fordert von den erwachsenen Teilnehmern am Wirtschaftsgeschehen eine ständige Präsenz im Rahmen der Konventionen und ein praktiziertes Konkurrenzverhalten, dass dem Einzelnen auch dann aufgenötigt wird, wenn eigentlich kein Interesse an der absurden Wettkampfforderung des androzentrierten Patriarchats besteht. Diese Art der wirtschaftlichen Verhältnisse außer Haus fordern eigentlich eine grundsätzliche Bindungslosigkeit sowie ein Abschotten der Privatheit. ‚Privat und dienstlich‘ zu trennen ist immer noch das kultivierte gesellschaftliche Dogma.
Das Ignorieren und das Verurteilen der menschlichen Interdependenz zu seinem Angehörigen, ist ein Grundzug der patriarchalen Ausbeutung durch die Machtclique.
Der in jüngster Zeit, im Sinne der betrieblichen Nützlichkeit, beschworene Teamgeist und die erforderliche Kooperationsbereitschaft setzt sich nur schleppend durch. Die Rahmenbedingungen des Arbeitsleben haben sich noch nicht wirklich geändert. Ökonomische Kooperation sowie Gruppendenken und -handeln wird in der Arbeitswelt eher noch beargwöhnt und nicht spürbar honoriert. Angeblich stellt sich zwar gerade ein Wandel in der Wertung von Erwerbsarbeit ein aber jedwedes Caring im Alltag ist dabei immer noch nicht erfasst. Doch zunehmend wird die totale Unterordnung des persönlichen Lebens unter die Notwendigkeit der Erwerbsarbeit bzw. unter die Forderungen der Wirtschaft, in Frage gestellt, wie wir jederzeit im Netz recherchieren können.

Das patriarchal-hierarchische Konzept der Bezogenheit auf einen „Chef“ (Machthaber, Herrscher, Gebieter, Vorstand, Hausherr, Familienvater) verhindert eher eine Zusammenrottung der Mitarbeiter (Untertanen, Bürger, Familienmitglieder) im Sinne der Sache oder des Unternehmens, als dass es sie fördert. Eine leicht zu lenkende Masse, die nach Anleitung arbeitet und möglichst ohne das große Ganze zu überblicken. Welche die Bausteine zusammen trägt, aus denen ein Gebäude errichtet wird, in dem die (Zu)Arbeiter nicht wohnen werden. Dieses Konzept ist immer noch die Basis der Weltwirtschaft. Die, größtenteils schlecht vergütete, Arbeitsleistung der am Ziel der Unternehmung unbeteiligten Arbeitnehmer, dient gerade so deren Existenzsicherung im Sinne von eigenem Überleben und ihrer unmittelbaren Angehörigen. Hier sollten wir immer die weltweite Realität vor Augen haben, um die Tragweite der Erwerbsarbeit als fremdbestimmender Faktor in unser aller Leben zu erkennen. Das maskuline Konkurrenz- und Wettbewerbsverhalten und die Akzeptanz des Bereitstellens anonymer Heere von Arbeitssklaven macht nach wie vor die Arbeitswelt aus und zwingt inzwischen ebenso die Frau in die Rolle des „einsamen Jägers“. Jede Anwendung von Konsens, persönlicher Kooperation und gegenseitigem Beistand (empathischen Verhaltens) unter den Mitarbeiterinnen würde die angestrebte uferlose Effizienz der Produktionen unmöglich machen. Gnadenlos konkurrierendes Verhalten ist daher immer noch Voraussetzung für das Fortbestehen des kapitalistisch bzw. imperialistischen Wirtschaftssystems. Über einen, historisch gesehenen, relativ kurzen Zeitraum ist es den Taktgebern, die selbst dem System unterworfen sind, gelungen, die Menschen der immer noch sippen- bzw. gruppenhaft lebenden Gemeinschaften und die späteren Familiengebilden aus den bäuerlichen und handwerkenden Zusammenhängen herauszulösen und fast flächendeckend in vereinzelte, individuell agierende Lohnarbeiter zu verwandeln.
Inzwischen vermissen wir die geballte, aber auch bergende menschliche Nähe kaum noch, im Gegenteil uns graust und hier absurderweise besonders der Frau, eher vor der Vorstellung im Getriebe anderer, womöglich verwandten Menschen, unterzugehen. Wir haben gelernt als Spielfigur auf dem Brett des gesellschaftlichen Obligat unsere Lebenszeit zu verbringen und machen diese Anpassung für unsere Kinder ebenfalls zur Auflage. Das Zerbrechen der menschlicher Geborgenheit, setzte natürlich noch viel früher ein. Was uns als „Teile und herrsche“ überliefert wurde, ist eine aus heutiger Sicht eher eine unauffällige jedoch permanente Maßnahme, die auf allen Ebenen im Geiste des bestehenden Androzentrismus umgesetzt und auf Kosten des weiblichen Teils der Menschheit durchgesetzt wurde. Das Patriarchat steht um so fester, je mehr die Mensch vereinzelt oder gar isoliert wird.
Das Leugnen und Beiseiteschieben einer artgerechten Geborgenheit trifft heute jedes Kind. Die tradierten gesellschaftlichen Optionen stellen mehr denn je die Forderung einer Betreuung durch Außenstehende der Fürsorge in der Geborgenheit einer Angehörigenbindung gegenüber. Das gipfelt bereits in der anerkannten Vorstellung einer sehr viel besseren Fremdbetreuung durch erst einmal unvertraute Personen. Während die Mutter weggeht (aus den Augen…), muss sich das zurückbleibende Kind mit den vorhandenen Bedingungen und dem anwesenden Personenzirkel arrangieren. Es darf erst einmal nicht es selbst sein. Ein Kleinkind lebt im Hier und Sofort. Wenn eine Fremdbetreuung über es herein bricht, lernt es über einen längeren Zeitraum sich dort an andere bis dahin unbekannte Mitmenschen anzupassen/zugewöhnen, die überwiegend alle so klein sind wie es selbst. Die bisher wichtige Näheperson, in der Regel die Mutter, sowie die vertraute Häuslichkeit muss vorübergehend „vergessen“ werden. Doch eigentlich bestehen diese täglichen Trainingseinheiten vor allem darin das ‚Vermissen‘ zu vergessen.
Ein Kind, für das als erste Übung das Besuchen eines Kindergartens ansteht, wird früher oder später die Erfahrung machen, dass der Aufenthalt dort auch Spaß bedeuten kann und es nur ein Umschalten zwischen zwei Welten erlernen muss. Der Vorteil ist und das erkennt es auch schnell, dass es nach einer gewissen Zeit wieder nach Hause geholt wird. Es trainiert also über einen Zeitraum von etwa drei Jahre, dass es ab jetzt Lebensumstände gibt, die irgendwie (fast) alle betreffen und die auch sein Dasein bestimmen. Es gibt Tage, da brauche das Kind die Betreuungseinrichtung einer Tagesmutter oder die Krippe, den Kindergarten oder Schulhort nicht zu betreten. Es gibt Wochenenden, Ferien, Urlaub mit den Eltern. Das kann beim Kind sogar Bedauern auslösen und muss nichts mit den internen häuslichen Verhältnissen zu tun haben. Die körperliche und psychische Stabilität eines Kindes ist individuell, wie ein Fingerabdruck oder sonst alles, was den einzelnen Menschen ausmacht. Es wird also auch auf Fremdbetreuung unterschiedlich reagieren und sich dem mit dem ‚täglichen Verlust der Heimat‘ auf eigene Weise abfinden. Das System ist inzwischen recht ausgeklügelt und wird gesellschaftlich als sozialer Standard wahrgenommen.

Ein Kind, das sich in seiner Bezugsumgebung sicher und geborgen fühlt, kann sein Potential in aller Ruhe entfalten und ausschöpfen. Gut zu beobachten bei einem jüngeren Geschwisterkind, das im wohlwollenden Bereich von mehreren älteren Bezugspersonen aufwächst. Hier ist deutlich zu erkennen, wie es von der Vorbildwirkung seines Umfelds regelrecht mitgerissen wird. Meine Beobachtung ist, gerade kleine Mädchen scheinen sich in einer kommunikativen Kooperationsgruppe bestehend aus liebevoller Geschwister- und Mutter(Eltern)anwesenheit, geradezu sauwohl zu fühlen. Ist einmal eine davon nicht da, wird die Person zwar vermisst, aber wenn es nicht gerade die Mutter ist, hält sich der Schmerz meist in Grenzen, es gibt ja noch genug andere emotionale Anlaufstellen.
Das ist beim Einzelkind in einer klassischen Kleinfamilie vielleicht anders. Ich war so gut wie eine Einzelkind. Als ich, ein sogenanntes Nesthäkchen, geboren wurde, waren meine Geschwister zehn bis zwanzig Jahre älter als ich. Meine sehr viel älteren Geschwister waren nur noch temporär oder gar nicht anwesend und auch später habe ich kaum mein Leben mit ihnen geteilt. Die damaligen politische Verhältnisse verfestigten die Auswirkungen der räumlichen Entfernung und die üblichen Distanzierungen von meiner Kindheitsfamilie ließ sie aus meinem Leben verschwinden. AusdenAugenausdemSinn bedeutete, dass meine sehr viel ältere Schwester nicht zum Nähekreis in meinem jungen Kinderleben gehörte. An dieser Hürde knabbern wir beide noch heute.

Meine Mutter agierte und reagierte einst im Sinne des Matrifokals, wohl da sie selbst ein von Tanten umgebenes Geschwisterkind war und eine Kinderschar aufgezogen hatte (sie gebar acht Kinder). Sie stellte, die nicht anwesenden anderen Familienmitglieder so dar, als wären sie im Alltag latent vorhanden, so dass ich zumindest in dem Bewusstsein aufwuchs, Teil einer größeren, mir angehörigen Gruppe zu sein. Da diese jedoch fast nie körperlich anwesend war, stellte ich irgendwann auch fest, Menschen werden nicht wirklich vermisst, die in meinem Alltag fast nie manifest sind. Ob ich wen oder etwas vermisse, ist eben auch in unserer Kultur eine Frage der sozialen Konditionierung, als Einzelerfahrung bzw. als kollektiven Auflage. Ob ich eine wirkliche Abwesenheit eines vertrauten Menschen nach vorheriger Nähe schmerzlich spüre oder eine künstlich erzeugte (Nicht-) Wahrnehmung durch Einreden bis hin zur Gehirnwäsche wirksam wird, das Gefühl von Verlust ist manipulierbar. So kann ich einen Vater schmerzlich vermissen, obwohl ich diesen nie kennenlernte und ebenso können Schwester oder Mutter „vergessen“ werden, die jahrelang die nächsten Menschen im Leben waren.

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