Geschwister, unsere verlorenen Verbündeten

Teil V der evolutionsphilosophischen Betrachtung:
Matrifokales Kontinuum oder Postpatriarchat? – Müssen wir eine menschliche Zukunft neu erfinden oder besinnen wir uns auf unser artgerechtes Menschsein?
von Stephanie Ursula Gogolin

Alle Menschen sind Geschwister oder Geschwister, unsere verlorenen Verbündeten

>> „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.
So beginnt die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948. Nach dem Willen der Weltgemeinschaft, damals vertreten durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen, sollte es also keinen Unterschied machen, ob ein Mensch arm oder reich ist, gebildet oder ungebildet durchs Leben geht, aus der Stadt oder vom Land kommt. Er hat als Mensch unveräußerliche Rechte und darf nicht als Objekt anderer behandelt werden.<<
(aus: http://www.oeko-fair.de/verantwortlich-handeln/frauen-entwicklung)

Und jede Leserin wird gleich ahnen, wo wieder einmal das grundlegende Problem liegt. Die hier scheinbar so arglos geforderte Brüderlichkeit ist eine der typischen Fallen, in welche auch die Humanistin ganz schnell geraten kann. Dabei ist es so einfach. In der deutschen Sprache gibt es ein sehr passendes Wort für unsere grundlegende Menschenbeziehung, die ursprünglich und gleichzeitig unseren unmittelbarer Bindungsstatus zeichnet: Geschwister!

Aber das Wort Geschwisterlichkeit enthält, wahrscheinlich zu offensichtlich, den Hinweis auf das generelle Vorhandensein und damit auch die immense Bedeutung von Schwestern in einer jeden Nähegemeinschaft (bedeutungsschwer für die soziohumane Entwicklung in ihrer artgerechten Weise). Es ist in unserer Gesellschaft schon schwierig die Frau als Mutter zu identifizieren und zu würdigen, ihren bedeutsamen Status als Schwester und diese somit als Mit-Tochter einer Mutter anzuerkennen, wird im heutigen Mainstream als Relikt gehandelt. Ja schlimmer noch, für manche stehen Schwestern als Synonym für weibliche Konkurrenz (um die Eltern- oder Vaterliebe) und allzu gern gilt Schwesternrivalität als der Prototyp für den Zickenkrieg (um den Mann).
Wir sind so weit weg von einem menschenartgerechten Umgang, dass innige Zugewandtheit und Einigkeit unter Schwestern verdächtigt wird ein falsches und unnatürliches Verhalten zu sein. Das Alles sind letztlich Verdrehung der Tatsachen und eine biologistische Etikettierung. Dazu kommt noch: Persönliche geschwisterliche Koalitionen stehen in unserer sexualfixierten Patri-Kultur unter einem latentem Generalverdacht.
Die in unserer Gesellschaftskultur generelle und patriarchös motivierte Narrenfreiheit für Brüder (ideell oder blutsverwandt) gilt in der Regel nicht im gleichen Maße für Schwestern, also Frauen, auch wenn sie Mütter sind. Die bekannten bzw. geduldeten Schwesternschaften der letzten Jahrhunderte sind Nonnenkongregationen und Ordensgemeinschaften. Diese Art der nichtverwandten Bündnisse finden im göttlichen also prinzipiell männlichen Geiste und unter dem Dach einer religiös motivierten oder ähnlichen Institution statt. Auch wenn sie sich teilweise ihre Regeln selbst geben können, unterwerfen sich Frauenorden prinzipiell dem Ideal des Männlich-Göttlichen, was als Nebeneffekt Jahrhundertelang im christlichen Abendland für die Frau auch einen gewissen Schutz bedeutete.

Die „Brüderlichkeit“, die in der Menschenrechtscharta beschworen wird, ist ein ideeller Wert, der wirkliche Geschwisterlichkeit überhaupt nicht im Sinn hat. Das Idol einer getreuen Bruderschaft und Kumpanei findet auf Grund tradierter Prägung (von der Bibel bis zum Roman ‚Die drei Musketiere‘) nur im patri-typischen Männeruniversum statt. Diese Art Verbrüderung blendet die Frau als Mitmensch, sowie in ihrer Eigenschaft als Schwester und des weiteren die natürlich vorhandenen (matrilinearen) Angehörige und Bezugsperson per se aus. Solange in der patriopathischen und/bzw. herrschaftlich eingesetzten Leitkultur eine Frau generell nur als Sexual-Partnerin definiert bzw. als verfügbares Objekt wahrgenommen wird, nimmt die leibliche Schwester den Rang eines zu schützenden Besitzes bzw. die Bedeutung eines, der Familienehre unterworfenen, Handelsobjekts ein. Im patriarchalen Kosmos ist letztlich eine Schwester vom Tag ihrer Geburt die (zukünftige) Frau eines anderen Mannes und somit für den Bruder als Sippenangehörige und unmittelbare Bezugsperson im Alltag nur für eine gewisse Zeit präsent und danach verloren.
In einem Matrifokal ist der ‚Geschwisterkreis‘ eine nachhaltige und tragende Basis. Sie umfasst/e die Kinder aller Schwestern und Basen in der unmittelbaren matrifokalen Bindungsgemeinschaft. In einem naturgemäßen Sinn bildet die Zugehörigkeit zur Mutterlinie die Identitätsgrundlage, in der naturgemäß alle männlichen Angehörigen (Söhne, Brüder, Vettern) integriert sind. Und dabei sind Schwestern für die Brüder in diesem natürlich strukturierten Sozialkontext wahrscheinlich von größerer Bedeutung als die Brüder. Die Schwester (und ihre anderen Dimensionen des Daseins: Mutter und Großmutter) garantierten das gute Leben im Alltag der Gegenwart und für die Zukunft.
Der Bruder (der männliche konsanguine Angehörige) ist hier als Teil der (urmatrifokalen) Schutzsphäre von aktueller Bedeutung. Geschwisterkreise sind bekanntermaßen sehr verschieden zusammengesetzt und manche kennen, besonders heutzutage, gar keine Geschwister. Da Basen und Vettern, in der naturgemäßen Matrifokalität gehören sie zur Grundausstattung, stets im unmittelbaren Umfeld unserer Kinder eher selten vorhanden sind, wäre es eine natürliche Aufgabe der älteren Erwachsenen ihren Kindern die Bedeutung der konsanguinen Angehörigen nahezubringen. So bezeichnet unsere Vierjährigen ihre neunjährige Kusine auch ganz selbstverständlich als ihre Schwester.
(Hinterdreinchen haben es nicht leicht, ich weiß wovon ich spreche. Die anderen beiden Kleinen in der Enkelkinderrunde wohnen weit weg, dabei wäre es eine tolle Kombi zum Spielen und Begegnen: fünf, vier und drei. Nach einem Besuch ist die angefachte Sehnsucht immer wieder deutlich zu spüren – am nächsten Tag einfach weitermachen zu können mit diesem neuen und zugleich alltäglichen Miteinander)

Das Matrifokal ist eine geschwisterbasierte Bindungsgemeinschaft – Inniges und zugewandtes Miteinander und persönliche Vertrautheit (in individueller Ausprägung) sind die Basiswerte in der Gestaltung des Alltag, während der gemeinsamen Arbeit und der Pflege und Begleitung des Sippennachwuchses. Wobei Brüder (vermutlich) naturgemäß andere Aufgaben wahrnehmen, als die (bemutternden) Schwestern. Die (menschenartgerechte) Bindung an die gemeinsame Ahnin gibt von Geburt an das Identitäts- und Zugehörigkeitsverständnis vor.

In der modernen anonymen Großgesellschaft ist es ein Dogma, die vorprogrammierte Distanzierung von den konsanguinen Angehörigen (und auch fast schon nachdrücklich unter den Geschwistern) vor sich herzutragen. In der patriarchalen Familie findet das Geschwisterverständnis in erster Linie im Denken und in Bezug auf einen gemeinsamen leiblichen Vater statt. Kinder werden auch heute noch automatisch den Vätern zugeordnet. Nach wie vor triumphiert die (Pseudo)Patrilinearität (auch ohne Patrilokalität) über die evo-bio-logische Mutterlinie.

Geschwistersein bedeutet Bindung und so das natürliche Bündnis der gemeinsamen Mutterlinie

Bruderschaften haben wenig mit dem konsanguin verwandten Bruder zu tun, sondern werden als Interessen- und Zweckgemeinschaften unter Männer verstanden. Sie sind eine Grundlage des Patriarchats. Nicht allein der ‚Zeugungsanspruch‘ der Väter begründete das patriarchale System, sondern vor allem die Machtaggression von männlichen Eliten, gestützt auf dem Komplott der nichtverwandten „Brüder“.
Verbrüderungen*, also Bündnisse, die vor allem die weibliche Herkunftsverwandtschaft bzw. jede Form von weiblichen Personen ausschließen, sind bereits die Gewaltgrundlage der anonymen, androzentrierten Gesellschaft, die schnell all die inhumanen Züge annahmen, die wir heute als terroristisch, sexistisch und rassistisch usw. bezeichnen.

»Männerbünde (kriegerische Schwurgemeinschaften) waren ein zentrales Merkmal aller alten indoeuropäischen Kulturen.« (Kris Kershaw) Zitat aus
http://www.doriswolf.com/wp/?page_id=4574

Die untereinander konkurrierenden Androkonzentrate (auf der Basis von Herrschaftsmacht und Gewalt) setzten seit Beginn der Patriarchose auf (Männer)Bündnisse aller Art und verlassen sich vom Prinzip her nicht auf einen tatsächlichen leiblichen Bruder. Patriarchale Strukturen gründen auf Bindungslosigkeit und sind hierarchischer Beschaffenheit. Das Beziehungsgeflecht, das die einer Leitkultur unterworfenen, anonyme (Groß)Gesellschaft ausmacht, besteht aus kleineren (hierzu gehören auch die Familienverbände) und größeren Communitys (wie Staatenbildung bis hin zu Imperien), die sich wohl kaum aus verwandten Individuen zusammensetzen könnten. So ist zum Beispiel der Heeresverband eines Herrschers ein bunter Haufen von überwiegend untereinander sich völlig fremder Männern, geeint unter einem Banner und einem monetären Anreiz. Eventuell trifft man auf Bekannte aus dem Herkunftsort und gelegentlich ziehen auch leibliche Verwandte gemeinsam aus, aber es gehört wiederum zum System Verbrüderungen, Bündnisse auf persönlicher Ebene, innerhalb organisierter Verbände zu verhindern. Es ist im Interesse eines jeden Herrschers keine, ihm gefährlich werdenden natürliche brüderlichen Bündnisse zuzulassen (auch nicht oder gerade nicht von seinen eigenen Söhne).
Obwohl jede Art der Zusammenrottung von Männern durchaus als Gefahrenpotential bekannt ist, wird das fast schon absurdes Ideal dieser Art der Brüderlichkeit ungebrochen hochgehalten. Der Ideologie des Patriarchats liegt ein sehr inhumanes, aber idealisiertes, Menschenbild zu Grunde – während mann die leibliche Schwester an einen fremden Mann verschachert, ist mann jedoch bereit für den nichtverwandten Bruder das Leben** zu geben. Es ist mehr ein euphorischer Wahn, als tatsächliches solides Verantwortungsbewusstsein für einander. Bruderschaften und jede Form von Männerbündnissen sind geschickt eingesetzte Machtmittel diverser Herrschercliquen. Den immer noch zitierten Spruch ‚Alle Menschen werden Brüder‚ können wir eigentlich als einen Teil des Stockholmsyndrom der kollektiven patriarchösen Geiselnahme ansehen.

(* Verbrüderung schließt also per se das andere Geschlecht aus. Hier bleiben die Brüder unter sich, mit den wenigen Ausnahmen der Zuarbeit durch weibliches Personal und den Erfüllungsgehilfinnen der Lustbarkeit)

(** siehe auch der Hype, der besonders bei filmischen Darstellungen um die Partnerschaften bei Polizisten oder in anderen Vereinen entsteht. Die Loyalität zu dem Partner wird so aufgewertet, dass alle anderen Beziehungen oder gar Bindungen dahinter weit zurücktreten müssen)

Der Begriff Schwesternschaft wird dieweil durchaus auch im Sinne einer tatsächlichen, durch Geburt bestehenden konsanguinen Verwandtschaft angewendet. Doch im Patriarchat haben sich ähnliche Bündnisse unter der Bezeichnung einer Schwesternschaft* gebildet, die jedoch vor allem unter Zeichen des Nichtverwandtseins stehen. Sie separieren ebenfalls Frauen, die nicht in der üblichen „ein Mann verfügt direkt über bzw. besitzt eine Frau“ – Vorgabe des Patriarchats ihren Platz gefunden haben. Zusammenschlüsse von nichtverwandten Frauen sind in der Regel auch den Dogmen der Patriarchose unterworfen. So sind beispielsweise die klösterlich lebenden Nenn-Schwestern zwar unter sich, jedoch direkt oder pro forma immer einem Herrn (und Gott) unterworfen, dessen Kult ihren Alltag bestimmt. Diese Frauen sind von ihrem konsanguinen Background (dem matrilinearen Hintergrund) isoliert und bilden nicht nur ein kulturell-soziales Zweckbündnis, sondern stellen auch die Schutzgemeinschaft** für die vereinzelten Frauen in diversen Kongregationen. Gleich welcher Geschlechterkombination ist die naturgemäße Bindung von Geschwistern ein matrifokales Selbstverständnis und daher im Patriarchat ein fast schon zu unterbindender Frevel, wenn es nicht gerade dem Erhalt einer Machtstruktur dient.

* ist per se dem anderen Geschlecht unterstellt … eine der wenigen Ausnahmen sind hier zum Beispiel die Beginen des Mittelalters … die heutigen Beginen sind bereits in ihrer Intention modernisiert…
** Klostertüren können nur von innen geöffnet werden…

Aus dieser (geschichtlich gesehen relativ jungen) Herrschaftspraxis privilegierter „Alpha“Männer/der männlichen Elite hervorging. Daher findet heute ausschließlich jede soziale Interaktion auf dem ideologisch bereiteten Boden in einer ausschließlich androzentrierten Lesart statt. Inzwischen ist alles dem Grundmuster der Patriarchose unterworfen. Die einst gewaltsam eingerichteten, väterlich dekorierten Herrschaftsmacht indoktriniert alles.
Aber trotz des maskulin-patriarchal eingenordeten, gesellschaftspolitischen Überbau sind wir immer noch nur eine Säugetierspezies, die ein spezielles Bindungsverhalten lebt.

Anhang: Der Begriff des sogenannten Avunkulats ist eigentlich eine Interpretation des Matrifokals aus patriarchaler Sicht. Der Mutterbruder als handelnde Person, rückt hier in den Fokus der Aufmerksamkeit und der Wertung der Geschlechter. Dabei sollten wir im matrifokalen Verständnis den Mutterbruder als eine soziale Ur-Einrichtung ohne besondere kollektive Aufwertung verstehen. Als Sohn und Bruder ist er von seiner Geburt bis zu seinem Tod ein integraler Teil des Matrifokals und damit essentieller Bestandteil des Arterhalts, ohne an der Zeugung des Nachwuchses innerhalb seines Nähekreises beteiligt zu sein. Das ist das Besondere an dem (matrifokalen) konsanguinen Bruders, er tat (tut) mehr für den Lebenserhalt des Nachwuchses, als der Spermaspender von außerhalb des unmittelbaren Matrifokals, der als “Vater“ eine ungewisse Entität ist.

… siehe Wikipedia: Avunkulat (von lateinisch avunculus „Muttersbruder“) bezeichnet in der Ethnosoziologie eine Familienform und gemeinschaftliche Organisationsweise, bei welcher der Onkel mütterlicherseits (der Oheim: Bruder der Mutter) die soziale Vaterschaft für die Kinder seiner Schwester übernimmt;[1] oft ziehen ihre Kinder auch zu ihm (Avunkulokalität) und erben schließlich seinen Status und Besitz, während seine eigenen Kinder bei ihrer Mutter oder deren Bruder verbleiben.

Das Avunkulat als Form der Elternschaft findet sich weltweit bei vielen der rund 160 Ethnien und indigenen Völkern, die sich nach der mütterseitigen Abstammung organisieren (matrilinear).[2] Bei ihnen spielt der biologische Vater bei der Erziehung und Entwicklung der Kinder keine oder nur eine untergeordnete Rolle und hat somit keine Autorität über seine leiblichen Kinder. In matrilinearen Verwandtschaftssystemen gelten Kinder in jedem Fall als mit ihrer Mutter verwandt, jedoch nicht zwangsläufig auch mit ihrem Vater (dem Partner oder Ehemann ihrer Mutter). Insbesondere in Gesellschaften mit freizügigem Sexualleben und Vielehen (Polygamie) ist die genetische Verwandtschaft eines Vaters mit seinen Kindern nicht zu garantieren. Zur Förderung des eigenen Familienverbandes (Clan, Lineage) ist es infolgedessen von Vorteil, die blutsverwandten Kinder der eigenen Schwestern zu unterstützen. Das Avunkulat wurde erstmals bei den nordamerikanischen Indianer-Stämmen der Huronen beobachtet.
siehe auch: 
https://marthastochter.wordpress.com/2022/11/02/der-vater-braucht-das-kind/
https://marthastochter.wordpress.com/2017/12/12/der-beginn-des-patriarchats/
https://marthastochter.wordpress.com/2017/10/25/der-begriff-familie-eine-dringende-korrektur/

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